Ich Vermisse Das Alte Internet
Gestern bin ich auf einen Beitrag auf Mastodon gestoßen, dessen Aussage ich mir sogar selber kurz davor dachte:
Ich vermisse das “alte” Internet.
Verteilte, themenbasierte Foren.
Eigensinnige Webseiten, mit ihrem eigenen Charme.
Keine 1000 Cookiebanner, Push Notifications, Newsletter Popups, etc. scheiß.Heute nur noch scheiß Social Media.
Corporate Langweilige Drecksseiten ohne Persönlichkeit.
Bevor man was lesen kann erstmal 98012 Werbungen und sonstige Layer wegklicken.
Dem kann ich mich eigentlich nur voll und ganz anschließen, habe aber auch aus- und weiterführende Anmerkungen:
Ich vermisse das geschrieben Wort
Heute ist gefühlt alles immer ein Youtube-Video, ein Reel, ein TikTok, ein Insta oder gar nur eine Story. Informationen werden von ein paar Zeilen Text unnötig aufgebläht und in all dem Rauschen geht der Kern verloren und verschwendet die Zeit des Konsumenten.
Ich vermisse die Beständigkeit von Informationen
Auf Webseiten, Blogs oder Foren konnte man jederzeit nachlesen gehen; die Informationen haben gelebt, solange die Plattform existierte - oder der Autor den Beitrag löschte. Heute verschwinden die Stories binnen 24 Stunden und die Reels, TikToks, Instas oder sonstigen Social Media Beiträge werden über Algorithmen schlicht aus der Wahrnehmung gespühlt. Durch die Binärformate von Bild und Video ist eine Durchsuchbarkeit ob des Inhaltes auch quasi unmöglich.
Ich vermisse offene Formate oder zumindest offene Zugänglichkeit
Früher hatte fast jede Seite einen RSS-Feed und man konnte alles zentral im Feedreader zusammenführen. Dann wurde der Inhalt der Feeds immer mehr auf Ausschnitte der Artikel reduziert, um wieder die Klicks auf die eigene Plattform zu ziehen. Und immer weiter wurden dann die RSS-Feeds abgeschafft. Sicherlich gibt es heute noch genug Webseiten, die RSS bereitstellen. Aber gefühlt war das früher einfacher, eine zentrale Stelle für den eigenen Überblick zu schaffen.
XMPP sagt sicherlich nur den IT-Nerds was. Es ist ein offenes Kommunikationsprotokoll für Kurznachrichten. Und früher war das quasi überall. Mit einem beliebigen XMPP Client konnte man den Facebook Messenger anbinden. Und hatte man ein web.de oder gmx.de-Konto, hatte man auch direkt eine XMPP Adresse und konnte damit chatten. Heute ist alles direkt ein proprietäres Inselprotokoll.
Und über offene APIs, die das Erstellen von eigenen Anwendungen oder Automatisierungen auf Twitter erlaubten, muss ich sicherlich gar nicht erst anfangen. Gefühlt waren die offenen APIs damals überhaupt der größte Beitrag zum Erfolg von Twitter.
Ich vermisse die Benutzbarkeit
Ich denke, how-i-experience-web-today.com hat es gut zusammengefasst. Man sucht nach einer Information im Internet. Doch bevor man diese bekommt, muss man erstmal durch gesponsorte Suchergebnisse, dann muss man dem Cookie-Consense zustimmen, dann fordert die Webseite einen auf, dass man Standort freigibt, Push-Notifications erlaubt, dann kommt ein Overlay, dass man sich doch bitte zum Newsletter anmelden soll, dann kommt vielleicht ein Chatbot aufgepoppt, eine Bewertungsplattform fragt nach deinem Erlebnis mit der Seite, dann drückt irgend eine Rabattaktion den Inhalt der Seite nach unten und nimmt als Hero 100% des Sichtfensters ein, dann läd Werbung nach, die den Inhalt weiter zerpflückt, nach jedem Absatz Text folgt dann eine Karte mit verwandten Beiträgen und die Liste lässt sich beliebig fortsetzen.
Ich vermisse die Individualität
Natürlich ist es schön, dass sich gewisse Geschmacksmuster eingebürgert haben. Dass man heute jederzeit weiß, was ein Hamburgermenü ist und wie es funktioniert. Aber am Ende haben aber gewisse Standards dazu geführt, dass jede Seite gleich aussieht und jedwede Individualität verloren gegangen ist. Alles sieht aus wie das xte Wordpress Magazin Theme. Jeder Shop sieht aus wie Shopify. Alle Seiten sind Bootstrap Standardkomponenten.
Und individuelle Webseiten sucht man auch sehr lange. Restaurant, Blumenläden, Handwerker? Alle haben ein Insta-Profil, aber keine eigene Webseite. Öffnungszeiten muss man auf dem Google Card zu dem Geschäft suchen. Und Privatmensch macht schon lange keine eigene Homepage mehr. Außer natürlich, man bewegt sich in der Szene, in dem Job. Dabei ist es gefühlt heute schon einfacher als damals mit selfHTML.
Ich weiß noch nicht, ob ich AI hier auführen kann, soll, will…
AI ist aktuell sicherlich ein kontrovers diskutiertes Thema. Auf der einen Seite tragen AI generierte Bilder sicherlich auch zur Belanglosikeit des Internets bei. Egal welche Seite man öffnet, man sieht immer mehr Bilder, die eindeutig die Handschrift von Dall-e tragen, austauschbar und belanglos sind. Von all den AI-Influencern und Bots mal abgesehen, die damit Social Media fluten und weiter unbenutzbar machen. Aber auf der anderen Seite sehe ich auch, dass so mancher grafisch unbegabter Blogger eine Möglichkeit bekommt, die er vorher nicht hatte. Bilder in Blogs tragen nunmal als Eyecatcher bei, können einen Beitrag aufwerten. Und wenn der Schreiber selber nicht in der Lage ist, technisch oder kreativ, seine Vorstellungen bildlich umzusetzen, dann bietet AI schon eine probate Lösung. Doch am Ende ziert nur das xte Studio Ghibli Bild den Beitrag, der damit aussieht wie aus der Klon-Fabrik…
Ich vermisse die coolen Nischendienste und -Seiten
Kennt noch jemand Soup.io? Eine Plattform, die eigentlich das Gegenteil von POSSE war. Man publiziert, wo man mag, und Soup hat alles in einen Strom zusammengefasst. Egal ob vom eigenen Blog, von del.icio.us, Twitter oder Tumblr, alles war am Ende zentral in einen Feed. Leider hat sich das Business-Modell von Soup nicht gerechnet und die Plattform wurde geschlossen. Wie auch viele andere Vorreiter des Web2.0 heute nicht mehr existieren oder nur noch ein Schatten ihres alten Ruhmes sind.
Oder all die kleinen Foren. Damals gab es für jede Nische ein Forum, wo sich Enthusiasten ausgetauscht haben und die dank des standardisierten Aufbaus auch gut les- und durchsuchbar waren. Heute versackt alles auf Reddit im ewigen Rauschen. Und dazu dann die kleinen Webseiten, dediziert für ein kleines Thema, das sonst nirgendwo im Internet ein Zuhause hatte.
Ich vermisse Nettiquette und Attitüde
Das ist natürlich ein sehr subjektiver Faktor, aber gefühlt war früher mehr Enthusiasmus und DYI Charakter im Internet. Heute ist es eher mangelnder Respekt, Wut, Druko und Lethargie. Die Enthusiasten sind still geworden, geben sich mit den Big Tech Plattformen zufrieden. Die Schreihälse machen Telegram-Kanäle, schreiben in ALLCAPS auf Facebook und Twitter oder publizieren anonym auf Youtube-Channeln.
Was kann man machen?
Es gibt mehrere Möglichkeiten:
- Man kann es hinnehmen, ignorieren, nichts tun.
- Man kann Frust ablassen, meckern und schimpfen.
- Man kann selber aktiv werden, selber eine Webseite, einen Blog, eine Plattform für die Nische erstellen und betreiben.